REDE ZUM OSKAR-BRÜSEWITZ-TAG DES GESCHWISTER-SCHOLL-GYMNASIUMS IN ZEITZ AM 16. JUNI 2007 |
Sehr geehrter Herr Bürgermeister, Sehr geehrter Herr Professor Stock, sehr geehrter Herr Tautz liebe tschechischen Gäste, liebe Angehörige des Pfarrers Brüsewitz, meine Damen und Herren,
Es gibt mehrere Gründe, weshalb ich gern zu Ihnen gekommen bin und der Aufforderung, hier zu sprechen, auch gern folge. Da ist die Freundschaft zum Initiator der Veranstaltung, Oskar Schmidt. Unsere Bekanntschaft reicht in gemeinsame Zeiten in der evangelischen Studentengemeinde und des gemeinsamen Freundeskreises um Peter Bohley in Halle zurück. Da ist aber auch meine besondere Zuneigung zu dieser mitteldeutschen Region. Schließlich verbindet sich mit dieser Einladung für mich auch so etwas wie eine Verpflichtung, nämlich als ein Vertreter der Bundesregierung zu verdeutlichen, dass die Ereignisse des 22. August 1976 und damit das Wirken von Oskar Brüsewitz einen politischen Widerhall entwickelten, der bis in unsere Tage reicht. Was im August 1976 hier in Zeitz geschah, war kein provinzielles Ereignis. Es wirkte wie ein Aufschrei gegen die Unfreiheit in der DDR ein Geschehen, das schockierte und deshalb geeignet war bis in die Nischen der realsozialistischen Gesellschaft hinein aufzurütteln. Rückblickend mag man sogar von einem Menetekel für das Gesellschaftsmodell sprechen, dessen Untergang wir 13 Jahre später in ganz Europa erleben konnten. Das heißt, wir greifen zu kurz, wenn wir in Oskar Brüsewitz etwa nur die eigenwillige, unangepasste Persönlichkeit sehen, die tragisch scheiterte. Oskar Brüsewitz hat neben anderen mutigen Menschen, die sich wie freie Bürger verhielten, obwohl ihnen der Staat keine Bürgerrechte gewährte, den Boden bereitet, auf dem eine friedliche Revolution stattfinden konnte.
Damals waren die publizistischen und wissenschaftlichen Reflektionen über das Leben des Oskar Brüsewitz noch recht spärlich. Ja es schien für manche zweifelhaft, ob das Leben dieses Pfarrers einer vertiefenden Auseinandersetzung wert wäre. Heute können wir auf zahlreiche Publikationen blicken, auf Stiftungen und die Arbeit des Brüsewitz-Zentrums, die uns sein Leben und Wirken näher gebracht haben. Ich kann auf diese Beiträge nur verweisen und sehe meine Aufgabe nicht darin, als aktiver Politiker in Konkurrenz zu diesen geschichtlichen Aufarbeitungen und Würdigungen zu treten. Ich will lieber den Versuch unternehmen, eine Brücke vom kämpferischen Leben und Aufsehen erregenden Tod zu unserem heutigen Verständnis von politischer Verantwortung zu schlagen - wenn Sie so wollen, nach dem lebendigen Erbe von Oskar Brüsewitz zu fragen. Dazu möchte ich zunächst sein Leben noch einmal berichten, wohl wissend, dass viele der Anwesenden die Details und Sachverhalte sehr viel genauer kennen als ich, aber um gewissermaßen die Stimmung zu schaffen, aus der heraus die Frage nach der heutigen Bedeutung des Lebens und Sterbens von Oskar Brüsewitz gestellt werden kann.
Oskar Brüsewitz wurde am 30. Mai 1929 geboren. Das Leben des jungen Oskar Brüsewitz war geprägt von Fluchtbewegungen, Brüchen und Ortswechsel. Der in eine siebenköpfige christliche Familie in Ostpreußen, in Tilsit, hineingeborene Junge begann mit 14 Jahren seine Wunschausbildung – eine kaufmännische Lehre –, musste diese aber 1944 abbrechen, da seine Familie wie viele andere auch vor der Roten Armee in Richtung Westen flüchtete. Die Familie ließ sich nach der Flucht in Mittweida nieder, in der Hoffnung, dort privat und beruflich Fuß zu fassen. Der Junge fand keine Ausbildungsmöglichkeit in dem von ihm angestrebten kaufmännischen Bereich und absolvierte daher eine Schuhmacherlehre. Kurz darauf zog die Familie nach Westfalen, wo man sich bessere Arbeitsmöglichkeiten versprach. Dort engagierte sich der junge Brüsewitz in einem kirchlichen Umfeld, eröffnete bereits 1949 eine eigene Schuhmacherwerkstatt und erwarb 1951 als jüngster Geselle überhaupt den Meistertitel. Schon zu dieser Zeit wetterleuchteten Fähigkeiten, die später in seinem Leben bedeutsam werden sollten, so sein Gespür für die Bedeutung öffentlichkeitswirksamer Aktionen und sein ausgeprägtes Organisationstalent: In einem Zeitungsinserat versprach er jedem eine Mark, der ihm abgelaufene Schuhe brächte. Das machte ihn bekannt und er erhielt gleichzeitig die damals noch wichtigen Ersatzteile für seine sonstigen Reparaturen. Nach einer kurzen, offenbar nicht sehr glücklichen Ehe, aus der auch eine Tochter hervorging, machte Brüsewitz 1954 einen radikalen Schnitt: Er verkaufte alles was er hatte, überließ den Erlös Frau und Kind und verließ Westfalen, um noch einmal ganz neu anzufangen. Er wechselte in die DDR, in die für die Produktion von Schuhen bekannte Stadt Weißenfels. Es war schwierig für ihn. Am Anfang bekam er zwar eine Stelle als Kontrolleur in der Schuhfabrik „Banner des Friedens“, verlor sie aber kurz darauf wieder. Die Bekanntschaft eines christlich engagierten Ehepaares, das sich um ihn kümmerte, führte ihn in einen Kreis Weißenfelser Pfarrer ein. Brüsewitz hatte gesundheitliche Probleme, was einen beruflichen Neuanfang wie auch eine Predigerausbildung, die er nun anstrebte, erschwerte. Er entschied sich, nach Leipzig zu gehen, aber die Hoffung, dort im Kirchenamt arbeiten zu können, erfüllt sich nicht. Brüsewitz arbeitete zunächst als Schuhverkäufer, machte sich aber nach kurzer Zeit wieder selbständig und stellte Schuhe für einen Großhandel her. Mit seiner zweiten Frau Christa bewegte er sich aktiv in einem christlichen Umfeld. Die Glaubensbezüge wurden für ihn immer bedeutsamer. Über öffentliche Aktionen versuchte er, Menschen anzusprechen und für den christlichen Glauben zu werben. So pachtete er ein Grundstück in Leipzig, um einen christlichen Kinderspielplatz zu errichten. Das wurde als Kritik gegen den Staat aufgefasst und übel genommen: Stellte der Staat nicht etwa genügend Spielplätze zur Verfügung?
Brüsewitz wurde zu diesem Zeitpunkt bereits von der Staatssicherheit beobachtet. Nicht alle Gemeindemitglieder konnten und wollten damals seiner bedingungslosen Art folgen und waren bereit, bei seinen Aktionen mitzugehen. Enttäuscht darüber verließ er die „Christengemeinde Elim“ und schloss sich der landeskirchlichen Gemeinschaft vor Ort an. Wiederum gesundheitliche Probleme und zu geringer Verdienst brachten die junge Familie dazu, 1959 in den Kreis Sömmerda umzuziehen. Das junge Paar hatte mittlerweile drei Kinder, der älteste Sohn Matthias war von Geburt an aufgrund einer Toxoplasmose-Infektion schwerstbehindert, er war blind, nahezu bewegungsunfähig und starb 1969. Das Leid und die Sorge um das Kind prägten die Eltern. Brüsewitz bemühte sich darum, wieder eine eigene Werkstatt aufzubauen. Mangels anderer geeigneter Räumlichkeiten richtete er sich einen ausrangierten Eisenbahnwaggon ein. Die Räume nutzte er nicht nur zur Schuhreparatur, sondern auch, um religiöse Schriften auszulegen und Gespräche über Glaubensfragen zu führen. Kurzzeitig gelang es ihm, 1963 eine Außenstelle der „Produktionsgenossenschaft des Handwerks“ in Weißensee einzurichten, in deren Rahmen er tätig war. Diese Außenstelle arbeitete nicht lange. 1964 verlor Brüsewitz seine Arbeit. Inzwischen war er der Staatssicherheit immer öfter aufgefallen. Sein Engagement für die Gemeinde, aber vor allem seine Wirkung auf junge Menschen, für die die lebendige Gemeindearbeit, die er organisierte, recht attraktiv war, machten ihn für die Stasi zum „Reaktionär“ und zum „Gegner des Sozialismus“. Voller Energie ließ er sich nicht davon abbringen, machte Öffentlichkeitsarbeit mit Plakaten und Schaukästen - weniger mit politischen als mit christlichen Inhalten. Er warb so für die Christenlehre und Konfirmation. Er entfernte aber auch staatliche Symbole von kirchlichen Schaukästen, wenn sie ihn störten. Durch seine immer wieder auffallenden Aktionen fühlte sich der SED-Staat zunehmend provoziert. Zusätzlich gab es Konflikte mit lokalen Funktionären, denn die staatlichen Reaktionen richteten sich nun oft gegen die örtlichen kirchlichen Verantwortlichen, die ultimativ gemahnt wurden, „Rechtsverstöße“ ihrer Mitglieder zu unterbinden. Brüsewitz ließ sich in keiner Weise für die SED einspannen und nutzte jede Gelegenheit, das auch öffentlich zu bekennen. Seine Antwort auf die allgegenwärtige Propaganda an den Wahlen zur Nationalen Front teilzunehmen, lautete etwa „Ich habe schon gewählt – nämlich Jesus Christus“. Überzeugt argumentierte er: „Ich habe dasselbe Recht wie die SED und werde den ganzen Kreis Sömmerda evangelisieren, egal, ob das der SED recht ist oder nicht. Dafür bringe ich jedes Opfer“. Er opferte in der Tat viel: Sein Engagement für Glaubensfreiheit wurde immer umfassender, schließlich gab er seinen Beruf auf, um eine vierjährige Ausbildung auf der Predigerschule in Erfurt zu machen. Mit 35 Jahren begann er eine neue Ausbildung, die er 1969 mit dem Abschluss als Hilfspfarrer beendete. Er wurde mit seiner Familie in die Pfarrei nach Droßdorf-Rippicha versetzt. Alle Hoffnungen konzentrierten sich nun auf den Neuanfang. Die weitere Geschichte können die hier Ansässigen sicher besser berichten als ich: In dem neuen Domizil und der neuen Wirkungsstätte schuf er buchstäblich aus dem Nichts, nämlich aus einer völlig verwahrlosten Kirche und einem ebensolchen Pfarrhaus, innerhalb kurzer Zeit für die Gemeinde brauchbare Gebäude. Auch die Haltung von Haustieren beeindruckte die Menschen und die Kirchenleitung vor Ort. Seine öffentlichen Aktionen setzte er fort, hängte Plakate auf, die neugierig machten auf seinen Gottesdienst und den christlichen Glauben, und als Höhepunkt und sichtbares Zeichen wurde auf dem Kirchturm ein Kreuz aus Neonröhren angebracht. Immer wieder versuchte man, ihn dazu zu bringen, dieses Kreuz abzuhängen. Ohne Erfolg. Er begründete sein Handeln mit der Aussage: „Solange der Sowjetstern überall leuchtet, solange bleibt auch meine Kreuz!“ Tatsächlich blieb das Kreuz auch noch nach seinem Tod auf dem Kirchturm.
Für Brüsewitz wurde der Kommunismus immer mehr zum „Reich der Finsternis“, das bekämpft werden müsse. Die Reaktion des Staates auf seine Arbeit bestärkten ihn in dieser Sichtweise. Die Konflikte nahmen zu, mehrere Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten wurden gegen ihn angestrengt. Brüsewitz ging in die Offensive und errichtete ein zweites Mal einen evangelischen Kinderspielplatz. Die Positionen und Konfliktlinien waren damit klar: In einem Gespräch zwischen Vertretern des Kreises und Vertretern der Superintendentur wurde 1973 deutlich auf die Grenzen der Arbeit der Kirchen hingewiesen, die nicht in die Aufgaben des Staates eingreifen dürften. Brüsewitz erhielt die Auflage, den Spielplatz bis zur Kommunalwahl 1974 zu beseitigen. Seine Antwort war ein klares Nein. Zudem widersetzte er sich gegen die stupiden Sprachnormierungen der SED –oft genug versuchte er sie lächerlich zu machen. Dem Spruchband „25 Jahre DDR“ setzte er ein Plakat „2000 Jahre Kirche Jesu Christi“ entgegen. Der Druck auf ihn zeigte aber Wirkung. Es gelang, seinen Einfluss auf die Jugend erheblich zu schwächen. Die Menschen, die in seine Kirche kamen, wurden weniger, auch sie mussten, wenn sie sich christlich engagierten, mit Sanktionen rechnen: besonders in der Schule wurden die Kinder und Jugendlichen darauf hingewiesen, dass es ihrer Karriere schaden würde, wenn sie sich zur Kirche und zum Pfarrer Brüsewitz bekennen. Auch die Töchter Esther und Dorothea bekamen die Benachteiligung der Christen in der DDR konkret zu spüren. Trotz sehr guter Schulabschlüsse durfte Esther zum Beispiel nicht auf die Erweiterte Oberschule. Brüsewitz kämpfte dagegen und erreichte nichts. Er war angeschlagen. 1975 brannte seine Scheune, nicht nur er war damals überzeugt, dass es sich um Brandstiftung handeln könnte. Auch sorgte er sich darum, versetzt zu werden. Die folgenden Aktionen waren nur noch mäßig erfolgreich. Der Druck auf ihn wuchs, ein Pfarrstellenwechsel wurde nun von seinem Probst angesprochen. Pfarrer Brüsewitz und seine Frau Christa gaben nach und stimmten einer Versetzung zu. Brüsewitz konnte aber einen solchen Kompromiss und erzwungenen Rückzug offensichtlich nicht akzeptieren. Man sah ihn auf dem Friedhof von Rippicha ein Grab ausschaufeln, das, wie sich später herausstellte, für ihn selbst gedacht war. Was danach kam, ist bekannt. Pfarrer Brüsewitz organisierte nach einem letzten Frühstück mit seiner Familie, der er Rosen auf den Tisch gestellt und liebevolle Briefe hinterlassen hatte, seine letzte öffentliche Aktion gegen die Diskriminierung der Christen in der DDR: „Funkspruch an alle, Funkspruch an alle. Wir klagen den Kommunismus an. Wegen: Unterdrückung der Kirchen und Schulen an Kindern und Jugendlichen!“ Er setzte ein letztes Zeichen gegen Unterdrückung und für Freiheit. So kompromisslos und radikal wie er gelebt hatte, entschied er sich, zu sterben.
Selbstmord Die letzte aller Türen, doch nie hat man an alle schon geklopft.
Was immer über die Reaktionen der DDR-Medien und DDR-Politik zu sagen ist, ich habe als jemand, der aus Überzeugung der Christlich-Demokratischen Union angehört, mich an dieser Stelle gegenüber den Angehörigen von Oskar Brüsewitz für die Verlautbarungen der damaligen Ost-CDU-Funktionäre und die Darstellungen der CDU-Presse der DDR zu entschuldigen.
Ich will nachfolgend drei Aspekte hervorheben, auf die die Beschäftigung mit Oskar Brüsewitz ein besonderes Licht wirft. 1.) Anpassungsbereitschaft und Zivilcourage 2.) Demokratie und Öffentlichkeit 3.) Religionsfreiheit.
Spätestens nach dem Bau der Mauer war die Anpassung an die Forderung der allgegenwärtigen Staatsmacht immer mehr zum Normalfall menschlichen Verhaltens geworden. Sie äußerte sich in vielen, nicht von eigener Überzeugung getragenen Entscheidungen, wie Mitgliedschaft in den Massenorganisationen, FDGB, DSF, FDJ, dem Tragen von Pionierhalstüchern im Zelebrieren von Fahnenappellen, in der Teilnahme an der Jugendweihe, der Bereitschaft, den Wehrdienst mit der Waffe zu leisten… bis hin zum gewissenhaften Vollzug offenkundiger Albernheiten wie etwa der Führung eines sogenannten Brigadetagebuches. Gegenüber einer sich ausbreitenden Anpassungsbereitschaft wurde das Einfordern persönlicher Freiheitsrechte geradezu erklärungsbedürftig. Es gab viele gute Gründe, sich anzupassen, nicht nur die Gründe der Bequemlichkeit und des Opportunismus, es gab auch- wenn Sie so wollen- weltpolitische Erwägungen, die eine Bereitschaft zur Anpassung nahe legten. Die Welt schien auf Dauer in zwei unversöhnliche Lager und Militärblöcke gespalten. Die Überwindung des totalitären Staatssozialismus des Ostblocks war vor diesem Hintergrund mit dem Risiko eines Weltkrieges verbunden. Wer wollte dafür Verantwortung übernehmen? War es da nicht verantwortungsbewusster, die real- sozialistische DDR um des lieben Weltfriedens wegen zu ertragen? Aber was bedeutete das für den Einzelnen? In der Suche nach den Grenzlinien eigener Anpassungsbereitschaft bedurfte es mutiger Vorbilder und Beispiele, die den Anspruch auf persönliche Freiheit und auf Eigenständigkeit im Denken noch wach hielten und damit für andere Grenzen der Anpassungsbereitschaft markierten. Brüsewitz war eine solche Beispiel setzende Persönlichkeit. Was gilt davon heute? Wir leben heute in einem demokratischen Staat, der gegenüber seinen Bürgern keine Allmachtsansprüche stellt. Sind wir deshalb in punkto Zivilcourage auf der sicheren Seite, ist die Gefahr des Rückfalls in den Geist der Anpassung dauerhaft gebannt? Mit der Gefahr des politischen Totalitarismus muss umso mehr gerechnet werden je weniger uns der Wert von Demokratie bewusst ist. Die NPD drängt dreist in die Parlamente und sucht die parlamentarische Demokratie für ihre totalitären Zwecke zu missbrauchen. Und obwohl es nicht miteinander vergleichbar ist, will ich schon daran erinnern, dass gestern auf dem Gründungsparteitag der Linken Bisky und Lafontaine die „Systemfrage“ gestellt haben und mir dabei zu unklar ließen, was sie mit „Systemfrage“ meinten. Aber neben den Gefährdungen durch den politischen Totalitarismus sollte uns bewusst bleiben, dass auch in der pluralistischen Gesellschaft der Zeitgeist totalitäre Züge annehmen kann. „Zivilcourage“ –der Begriff scheint inzwischen so sehr zum wohlfeilen Schlagwort, ja zum Ausdruck normierter Verhaltenserwartungen geworden zu sein, dass man es kaum wagt, ihn im Sinne des Brüsewitzschen Handeln zu interpretieren. Zu sehr wird von Politik und Medien vorgegeben, was unter „Zivilcourage“ zu verstehen sei. Brüsewitz selbst hätte gegen diese Art von Bevormundung vermutlich aufbegehrt. Vielleicht werden wir seinem Verständnis von Zivilcourage am besten gerecht, wenn wir uns auf Dietrich Bonhoeffer beziehen, der die Frage nach der Zivilcourage unter den Bewährungen im Nationalsozialismus gestellt hat und 1943 in seiner Gefängniszelle schrieb. „Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.“
Pfarrer Brüsewitz war einer, der sich dem Totalitätsanspruch des SED-Regimes in aller Öffentlichkeit entgegen stellte. Dieses öffentliche Demonstrieren, dieses laut sagen, was er wollte und was er nicht wollte, war für das DDR-Regime eine nicht hinnehmbare Provokation. Brüsewitz lehrt uns mit seinem Einsatz, die Bedeutung der Öffentlichkeit zu verstehen. Er nahm sich Freiheiten heraus, die das Regime nicht zu gewähren bereit war. Gerade seine Orientierung, alle Aktionen in größtmöglicher Öffentlichkeit zu inszenieren, war für ein Herrschaftssystem, das zu Anpassung, Schweigen, Wegschauen – schlimmer noch zur Denunziation – erzog, kaum erträglich. Das öffentliche Leben in der DDR war weitgehend ein Leben aus zweiter Hand, das geprägt war durch vorgegebene Losungen und Sprüche, die zum Teil an Dümmlichkeit nicht zu überbieten waren. „Mit der Jugend jung geblieben – Walter Ulbricht den wir lieben“, „Kämpfen ist die höchste Tugend – lehrt Walter Ulbricht Freund der Jugend“. Brüsewitz wollte das öffentliche Leben nicht der SED überlassen. Nirgends wird mir das so deutlich wie in seinem provokanten Kampf gegen die Sprach- und Spruchvorgaben der Partei- und Staatsführung. Als die Parteifunktionäre der zwangskollektivierten Landwirtschaft selbstbewusst auf Erntewagen der LPG die zentral vorgegebene Losung „Ohne Gott und Sonnenschein fahren wir die Ernte ein“ anbrachten reagierte Brüsewitz mit einem öffentlichen Transparent „Ohne Regen ohne Gott geht die ganze Welt bankrott“. Bei aller Naivität solchen Schlagabtausches, Brüsewitz holte seine Anliegen aus der Stille in die Öffentlichkeit.
Prüfinstanz für politisches Wollen und Handeln in der Demokratie ist nach Hanna Ahrendt ganz ausdrücklich die Öffentlichkeit. Sie ist ein Wesensmerkmal der Demokratie. Schwindet Öffentlichkeit, schwindet mit ihr die Demokratie. Der Prüfstein für politisches Denken ist die Freiheit des Einzelnen. „Politik“, so Hanna Ahrendt, „beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen“. Politik muss in der Öffentlichkeit, also überprüfbar stattfinden. Um politisches Handeln überprüfen zu können, bedarf es der Urteilskraft. Diese muss ausgebildet, ermutigt und gefördert werden. Der öffentliche Raum ist der Ort von politischem Denken, Entscheiden und Handeln. Darum muss dem Bestand der Öffentlichkeit und der Entwicklungsmöglichkeit der Urteilsfähigkeit mündiger Bürgerinnen und Bürger unsere höchste Aufmerksamkeit gelten. Soweit Hanna Ahrendt.
Der SED-Staat versuchte, die Kirchen einzubinden und zu kontrollieren. Religionsfreiheit war zwar in der ersten Verfassung der DDR von 1949 festgeschrieben, aber die SED hat sich an diese Verfassung nicht gehalten, es existierte keine Rechtsgrundlage, um für ein Verfassungsrecht streiten zu können. In der nachfolgenden Verfassung von 1969 wurden die bisherigen Kirchenartikel sogar gestrichen. Stattdessen hieß es „Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche sind möglich“. Die Kirchen wurden so zum Bittsteller. Der SED war vor allem wichtig, den Einfluss der Kirche auf die Jugend zu unterbinden. Dem diente u.a die Jugendweihe und Behinderung kirchlicher Jugendarbeit, wie sie kirchlich Engagierte wie Brüsewitz zu spüren bekamen. Allerdings machte ein wichtiger Faktor die evangelische Kirche in DDR etwa im Vergleich zur CSSR relativ unabhängig: Sie hatte ihre Pfarrer selbst bezahlt und sie konnte ihre eigenen Ausbildungsstätten unterhalten. Da der Staat sie nicht als Hochschulen anerkannte, unterstanden sie auch nicht dem Hochschulgesetz. Eine wichtige Rolle spielte natürlich auch die Unterstützung durch die westdeutschen Kirchen. Eine 1970 erlassene Verordnung, dass außer Gottesdienste alle kirchlichen Veranstaltungen angemeldet werden sollten, wurde nach einiger Zeit zurückgenommen. Ich kann mich selbst aus meiner Zeit in der Jungen Gemeinde in Saalfeld an die Wirkung dieser Verordnung erinnern. Sie war schlicht nicht durchsetzbar. Die Beschränkung der Religionsfreiheit in der DDR resultierte aus dem ideologischen Anspruch des Marxismus, der die weltrevolutionäre Selbsterlösung der Menschheit propagierte. „Dein Reich komme“ aus dem Vaterunser musste hier als eine Kampfansage gegenüber dem eigenen Zukunftsverständnis wahrgenommen werden.
Wir haben nach der politischen Wende versucht, verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen, etwa durch die Einführung des Religionsunterrichtes in den Schulen und durch die Aufnahme des Gottesbezuges in unseren Landesverfassungen. Dabei musste zumindest ich die ernüchternde Erfahrung machen, dass es gerade auch innerhalb der evangelischen Kirche Vorbehalte gegen die Einführung des Religionsunterrichtes und die Aufnahme des Gottesbezuges in die Verfassung gegeben hat. Der Schulleiter dieses Gymnasiums hat in seinem Grußwort darauf hingewiesen, wie mühselig der Weg ist, religiöse Bildungsangebote wieder in den Schulunterricht aufzunehmen. Inzwischen stellt sich in der Bundesrepublik die Frage der Religionsfreiheit ganz anders, nämlich nicht mehr im Verhältnis zu einer atheistischen Staatsideologie, sondern im Bezug auf die durch Zuwanderung und Globalisierung ins Land gekommenen Religionen anderer Kulturkreise. Besonders die Einbindung muslimischer Glaubensgemeinschaften in unser Staatswesen, das einem säkularem Selbstverständnis folgt und dessen grundrechtlich garantierte Religionsfreiheit als eine Frucht christlich geprägten Denkens gelten muss, bereitet erkennbar Probleme. Unser Haus ist bemüht, mit der Islamkonferenz ein Dialogforum zu schaffen, das staatskirchenrechtliche Beziehungen auch zum Islam als der dritten großen Religionsgemeinschaft in unserem Lande erarbeiten soll. Das Schwierigste was uns dabei entgegentritt, sind die Probleme des totalitären religiösen Verständnisses im Rahmen des Islamismus. Hier droht Religionsfreiheit durch Religion bedroht zu werden. Ich weiß nicht, wie Oskar Brüsewitz mit seinem christlich-missionarischen Eifer heute mit der Herausforderung des Islams in unserer Gesellschaft umgehen würde. Wir tun jedenfalls gut daran, eine staatlich garantierte Religionsfreiheit insgesamt einzufordern, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Herkunftsstaaten der Muslime, die bei uns leben.
Es sei mir abschließend noch ein persönliches Wort gestattet. Ich lebte Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre im 100 km entfernten Saalfeld in Thüringen. Ich bin also außerhalb des Wirkungsbereiches von Oskar Brüsewitz aufgewachsen. Gleichwohl steht Oskar Brüsewitz auch für andere unangepasste evangelische Pastoren, die sich in einer Zeit, als im Westen die Studentenrevolten tobten, den Freiheit suchenden Jugendlichen der DDR zuwandten und ihren Wunsch nach Aufbruch ernst nahmen. Für mich war es Pfarrer Walter Schilling, der damalige Kreisjugendpfarrer in Rudolstadt, dem ich in diesem Zusammenhang sehr viel verdanke und der vergleichbar Oskar Brüsewitz in seinem Einsatz so weit ging, das die Kirchenleitung auf staatlichen Druck sein Freizeitheim in Braunsdorf schließen musste… Ich erwähne dies persönliche Beispiel auch deshalb um zu verdeutlichen, dass Oskar Brüsewitz nicht nur als herausragende Einzelperson zu würdigen ist, sondern dass er auch stellvertretend für andere evangelische Pastoren steht, die in der Zeit der DDR für die Freiheitsrechte junger Menschen eintraten. |
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