Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.09.2008
Drei Millionen Aussiedler kamen seit 1988 zurück
Sie kommen aus Sibirien, aus dem Kaukasus oder Rumänien. Ihre Familien
hatten jahrhundertelang an den Ufern der Donau oder der Wolga
gesiedelt. Die meisten waren damals gebeten worden zu kommen,
eingeladen von Zaren und Königen, um ihre handwerklichen Fertigkeiten
und Kenntnisse für das jeweilige Land dienstbar zu machen. Manche
hatten sich auch mit Gewalt ihren Platz geschaffen.
Doch dann, im Zweiten Weltkrieg, begann das Ende für etwa acht
Millionen deutsche Kolonisten, die außerhalb der damaligen Grenzen des
Deutschen Reiches gelebt hatten. Wenn man heute Jüngeren bloß die Namen
der Gebiete nennt, in denen einst Millionen Deutsche wohnten -
Bessarabien, Banat, Bukowina, Dobrudscha, Karpaten -, blickt man in
fragende, unwissende Gesichter: Nie gehört.
Eine Million Deutsche mussten nach dem Hitler-Stalin-Pakt "heim ins
Reich", wie es damals hieß, wurden von Hitler aus dem Baltikum geholt
oder, wie beispielsweise die Familie des heutigen Bundespräsidenten
Köhler, aus Bessarabien in das von Deutschen besetzte Polen
verfrachtet, von wo sie bei Kriegsende abermals vertrieben wurden. In
der Sowjetunion brachte Stalins Geheimpolizei die einheimischen
Deutschen schon seit 1937 massenweise um, alleine 120000 wurden wegen
ihrer Herkunft zum Tod verurteilt und hingerichtet, etwa 800000 schon
bis 1941 deportiert, vielfach nach Sibirien, wie Matthias Weber vom
"Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen
Europa" bei einer Tagung in Berlin beschrieb.
Dann, mit dem Kriegsende, kam die große Flucht für die Deutschen aus
den alten Reichsgebieten und aus den Siedlungsräumen des Ostens. Mehr
als 14 Millionen gingen nach Westen. Diejenigen, die in ihrer Heimat
blieben, wurden vielfach nicht mehr glücklich. Immer wieder gab es
kleine Wellen von "Aussiedlern", die dorthin zurückkehrten, wo sie,
manchmal vor Jahrhunderten, hergekommen waren. Bis zum Ende des
Sowjetreiches waren es vor allem Familien aus Siebenbürgen in Rumänien
und aus Polen. So kamen 1954 etwa 240000 Aussiedler nach Vermittlung
des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz aus Polen in die
Bundesrepublik. Zuvor (1951/1952) waren mit der sogenannten "Operation
Link" 80 000 aus Rumänien gekommen. Bis 1986 waren es etwa eine Million
Aussiedler, die zusätzlich zu den Flüchtlingen und Vertriebenen der
unmittelbaren Nachkriegszeit in der Bundesrepblik aufgenommen wurden.
Mit dem Ende des Kalten Krieges schwoll der Strom der Aussiedler so an,
dass die Regierung Kohl sich 1988 entschloss, einen
"Aussiedlerbeauftragten" einzusetzen. Der erste Amtsträger war der 2002
gestorbene CDU-Politiker Horst Waffenschmidt. An die ersten zwanzig
Jahre des "Beauftragten" erinnerte in dieser Woche eine Konferenz der
Adenauer-Stiftung, die sich aber auch als Arbeitstagung für
Zukunftsfragen verstand, so jedenfalls der gegenwärtige Beauftragte,
Christoph Bergner. Eine Million Übersiedler trafen zwischen 1987 und
1990 in den Übergangslagern ein, etwa die Hälfe davon noch einmal aus
Polen, darunter auch Eltern begnadeter junger Fußballspieler.
Für die Bundesrepublik Deutschland waren die sogenannten
"Russlanddeutschen", die Anfang der neunziger Jahre die Gelegenheit
offener Türen nutzten, eine große soziale Herausforderung. Sie wurde
unter anderem von einer unscheinbaren, aber zentralen Behörde im
Hintergrund des politischen Geschehens gemeistert, dem
Bundesverwaltungsamt. 1990, auf dem Höhepunkt einer weltöffentlich kaum
beachteten Völkerwanderung, kamen fast 400000 Aussiedler in den
Übergangslagern in Deutschland an, 1991 waren dort 221000 Aussiedler zu
betreuen, 1992 waren es 230000 Neuankömmlinge. Dann wurden die Regeln
für die Übersiedlungen allmählich strenger, die Anträge förmlicher und
der Nachweis von Sprachkenntnissen notwendig.
Auch verbesserte sich in den Jahren darauf die Situation in den
Herkunftsgebieten allmählich, so dass viele Familien sich doch zum
Bleiben entschlossen. Denn insbesondere für die Jugendlichen war
Deutschland weder Heimat noch Ziel ihrer Träume. Wie sehr sie am Rande
der neuen Heimat standen, zeigte sich auch in Kriminalitätsstatistiken
und in besorgten Berichten von Gefängnisverwaltungen über Bandenbildung
unter jugendlichen Strafgefangenen.
Doch der überwiegende Teil, so wurde auf der Berliner Tagung immer
wieder betont, war erfolgreich um Integration bemüht. Doch blieb die
sogenannte "Aussiedlerproblematik" für viele Jahre vor allem für die
Städte und Gemeinden ein Problem. Insbesondere in ländlichen Gegenden
bildeten sich Randsiedlungen, wo "Russen" lebten und oft ähnlich kühl
behandelt wurden, wie schon fünfzig Jahre zuvor die Vertriebenen und
Flüchtlinge der Nachkriegszeit. Ab 1996 wurden Aussiedler mit
staatlichen Sanktionen bedroht, wenn sie sich außerhalb der
zugewiesenen Gegenden niederließen. So versuchte man die Bildung von
Gettos zu vermeiden. Andererseits erwies sich die alte Heimat als
ziemlich hartleibig, wenn es darum ging, den Start zu erleichtern.
Bis heute ist die Anerkennung von akademischen Abschlüssen aus der
ehemaligen Sowjetunion ein Hindernis. Innenminister Schäuble, der auch
damals bestimmenden Einfluss in der Regierung ausübte, riet in dieser
Woche, wohl rückblickend, dazu, "etwas generöser" zu sein, bei der
Anerkennung früherer Lebensleistungen. Dabei hatten die Aussiedler von
Rechts wegen (Paragraph 116 des Grundgesetzes) denselben Status wie
Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemals deutschen Reichsgebieten
und außerdem alle Rechte als Deutsche.
Doch für eine Kurskorrektur ist es nicht zu spät, auch wenn aus dem
Strom der Übersiedler inzwischen ein dünnes Rinnsal geworden ist. Etwa
drei Millionen Aussiedler sind in den letzten zwanzig Jahren nach
Deutschland übergesiedelt. Inzwischen sind die Zahlen drastisch
gesunken: Zwischen 2005 und 2007 waren es immerhin noch 50 000, im
ersten Halbjahr 2008 kamen noch 1500 Aussiedler. Das liegt unter
anderem daran, dass die Anforderungen weiter gestiegen sind, es gelten
für Aussiedler zum Beispiel die gleichen Voraussetzungen für den
Spracherwerb wie etwa für eine junge Türkin, die aus Istanbul zu ihrem
Mann nach Stuttgart ziehen möchte. Außerdem wurde mit der letzten
Änderung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes im Jahre 1992 auch ein
"Statusausschluss" für jene festgelegt, die nach dem 31. Dezember 1992
geboren wurden. Seither kann man sozusagen per Gesetz nicht mehr als
Deutschstämmiger geboren werden und hat demzufolge dann auch keinen
Anspruch auf Aufnahme als Aussiedler in Deutschland.
Für die etwa 1,5 Millionen, die mit diesem Status weiterhin im Osten
Europas leben, hat sich das Dasein auch durch deutsche Infrastruktur-
und Kulturförderung verbessert. Sie sind aber, im neuen, wachsenden
Europa längst auch zu "Brücken der Verständigung" geworden.
Bundeskanzlerin Merkel bekannte sich in dieser Woche gleichwohl noch
einmal zu der "Verantwortung für diese Menschen, die unter den
Kriegsfolgen zu leiden hatten, egal ob sie blieben oder zu uns kommen
wollten". Die Verbesserung der Lebensverhältnisse dort sei eine
"gleichrangige Aufgabe" mit derjenigen der Aufnahme und Integration
derer, die kämen. Und generell sei, so sagte Frau Merkel, das Thema
Minderheiten keineswegs erledigt, wie die jüngsten Konflikte zeigten.
Die Qualität eines demokratischen Staates zeige sich auch daran, "wie
mit Minderheiten umgegangen wird und wie sich die Minderheiten fühlen".
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